Mit 135 Einsätzen ins Jubiläumsjahr:
Das ehrenamtliche System der Notfallseelsorge im Main-Taunus-Kreis hat sich in zehn Jahren erfolgreich etabliert. Leiterin Christine Zahradnik kann aktuell auf ein sehr arbeitsreiches Jahr 2021 zurückblicken: das inzwischen rund 50-köpfige Team konnte 135 Einsätze leisten – das sind 40 Prozent mehr als im Vorjahr.
„Für mich war damals erstmal wenig Struktur erkennbar“, erinnert sich Pfarrerin Christine Zahradnik. 2005 kam die heutige Leiterin der Notfallseelsorge im Main-Taunus-Kreis zur evangelischen Kirchengemeinde in Okriftel und hätte sich gerne direkt auch dem Thema der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) intensiver gewidmet. Bedarf hätte es sicher gegeben, „aber das schien niemandem wirklich eine Herzensangelegenheit zu sein.“ Dass es heute ganz anders ist und sie dazu maßgeblich beigetragen hat, erfüllt sie mit Freude und Dank.Ihr Amtskollege Pfarrer Andreas Mann, Notfallseelsorge-Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), hatte immerhin bereits 1993 in Wiesbaden mit dem Verein „Seelsorge in Notfällen“ (SiN e.V.) das erste entsprechende System in der Region gegründet – und zwei Jahre später zwei hessenweite Symposien für Notfallseelsorge und Krisenintervention veranstaltet. Mitarbeiter der Rettungsorganisationen und kirchlich Interessierte diskutierten über die Notwendigkeit menschlicher Begleitung von Opfern und Betroffenen in akuten Notfällen und Krisen – und wie diese aufgebaut sein könnte. Ende der 90er-Jahre engagierte sich der früh verstorbene Pfarrer Peter Diekmann für die Einführung der Notfallseelsorge im Main-Taunus-Kreis, doch die kleine Gruppe in Sulzbach schaffte es nicht, diese Initiative richtig zum Laufen zu bringen.
Von einem „organisatorischen Chaos“ Anfang des neuen Jahrtausends spricht Mann. Neben mangelndem Engagement gerade bei den Pfarrern der Region sei „unstrukturiertes Gewurstel“ auszumachen gewesen. Außerdem sei die Wiesbadener Notfallseelsorge als „Backup“ für das System im Main-Taunus-Kreis genutzt worden, was zu viel Unmut auf allen Seiten führte. Eine gewisse Hoffnung verband sich 2007 mit der Einführung und Besetzung einer ersten Viertel-Pfarrstelle für Notfallseelsorge im Main-Taunus-Kreis mit Pfarrer Lothar Breidenstein. Doch auch das konnte die Lage nicht deutlich verbessern. Obwohl sich ursprünglich 17 evangelische und katholische Pfarrer bereit erklärt hatten, sich bei Notfällen im eigenen Gemeindebereich auch zu ungünstigen Zeiten von der Leitstelle des Landkreises anrufen und entsenden zu lassen, konnten nur rund 35 Einsätze pro Jahr abgedeckt werden.
Neustart gelang dank ehrenamtlicher Kräfte
Das System, das nur hauptberufliche Seelsorger alarmierte, brach schließlich mangels Bereitschaft auseinander. Im Rest der EKHN war die Entwicklung allerdings schon wesentlich weiter fortgeschritten, und so war es nur folgerichtig, dass 2011 die Notfallseelsorge-Pfarrstellen Main-Taunus und Groß-Gerau zu einer halben Stelle zusammengelegt und mit Pfarrer Heiko Ruff-Kapraun besetzt wurden. „Sicherlich ist es zu einem großen Teil seinen Bemühungen zu verdanken, dass ein Neustart und die Umstellung vom pfarr- zum ehrenamtlichen System gelang“, weiß Mann. Ein erster Ausbildungskurs wurde konzipiert und durchgeführt – und am 12. Februar 2012 im Rahmen eines Gottesdienstes in Okriftel ein 20-köpfiges, komplett ehrenamtliches Team beauftragt. „Damit konnte die letzte Versorgungslücke in der sonst flächendeckenden Notfallseelsorge im Bereich der EKHN geschlossen und überall im Kirchengebiet betroffenen Menschen ein vergleichbares seelsorgliches Angebot in Notfällen gemacht werden.“ Für ihn war diese Verlagerung der „Arbeitslast“ auf Ehrenamtliche letztlich alternativlos.
„Das war wie eine ‚Stunde Null‘“, blickt Ruff-Kapraun mit gewissem Stolz zurück und beschreibt die Aufbruchstimmung: „Wir konnten die strukturellen und organisatorischen Grundlagen legen, damit ein Dienstplan mit einer echten 24/7-Bereitschaft entstand. Das Interesse an ehrenamtlicher Mitarbeit war sehr groß, und ich lernte sehr engagierte Personen aus unterschiedlichsten Bereichen kennen, die vielfältige Erfahrungen aus Familie und Beruf, Feuerwehr, Hospiz oder Trauerbegleitungen mitbrachten. Die neuen Notfallseelsorger wollten ihre Zeit und Fähigkeiten einbringen und tauschten sich miteinander über Einsätze aus, außerdem gab es regelmäßige Supervision.“
2014 übergab er die Leitungsfunktion an Pfarrer Michael Scherer-Faller, der wiederum 2019 von Pfarrerin Christine Zahradnik abgelöst wurde. Sie kann aktuell auf ein sehr arbeitsreiches Jahr 2021 zurückblicken, denn das inzwischen rund 50-köpfige Team konnte 135 Einsätze leisten – 40 Prozent mehr als im Vorjahr. In über 1000 Einsatzstunden wurden 524 Menschen betreut. Meistens wurde der Alarm nach einem häuslichen Tod oder einer erfolglosen Reanimation ausgelöst, aber auch nach Suiziden oder – tödlichen – Verkehrsunfällen kamen die Notfallseelsorger zum Einsatz. 23-mal wurden gemeinsam mit der Polizei Todesnachrichten überbracht, außerdem ging es um die Betreuung von Evakuierten nach einem Brand oder von Angehörigen von Vermissten. Siebenmal wurden auch die „Hilfen für Helfer“-Kollegen, die sich um die Einsatzkräfte von Rettungsdienst und Feuerwehr kümmern, zur Unterstützung angefordert. In der Hälfte der Fälle alarmierte der Rettungsdienst die Notfallseelsorge, bei 51 Einsätzen war es die Polizei, fünfmal die Feuerwehr. Aber auch Hausärzte, Tierärzte, Privatpersonen, Krankenhäuser und andere Notfallseelsorgeorganisationen baten um die Hilfe der PSNV-Profis. Sogar nach der Flutkatastrophe im Ahrtal waren sechs Notfallseelsorgekräfte aus dem Main-Taunus-Kreis im Einsatz und betreuten vor Ort rund 100 Betroffene.
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